NICHTMENSCH (2021)

In seiner erstmalig 1982 erschienenen Erzählung „Goethe schtirbt“ verwendet Thomas Bernhard den Begriff des Nicht-Menschen. Ich bemerkte eine gewisse Sympathie für dieses Wort, das doch ganz offensichtlich nichts Gutes zu bedeuten hatte. Und ich begann, es selbst zu verwenden. Ohne, dass ich eigentlich wusste, wie es Bernhard verwendet wissen wollte. Vielleicht, so dachte ich, ist der Nicht-Mensch einer, dem man das Menschsein eigentlich absprechen müsste. Einer, der, durch welche Umstände auch immer, die Bezeichnung „Mensch“ gar nicht verdient hat.

Später las ich einen Aufsatz des französischen Anthropologen Marc Augé, in dem er seine Theorie der Nicht-Orte erläutert. Er schreibt: […] So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte kennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort. Unsere Hypothese lautet nun, dass die „Übermoderne“ Nicht-Orte hervorbingt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind und, anders als die Baudelairesche Moderne, die alten Orte nicht integrieren; registriert, klassifiziert und zu „Orten der Erinnerung“ erhoben, nehmen die alten Orte darin eine speziellen, festumschriebenen Platz ein. […] Eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist, bietet dem Anthropologen ein neues Objekt […] Der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue seine Spiegelung findet. […]

Übertrage ich nun Augés Theorie auf den Nicht-Menschen, wie sähe sie aus? Ist ein Nicht-Mensch demnach ein Mensch ohne Geschichte, ohne Herkunft? Oder hat er zwar beides, kann sich selbst innerhalb dieser aber nicht verorten? Augé spicht Nicht-Orten durchaus zu, funktional eine gewisse Komplexität aufzuweisen, kritisiert aber, dass sie sich nicht in die Komplexität ihrer organisch gewachsenen Umgebung einfügen, sondern alleinstehend sind. Sind Nicht-Orte sowas wie Außenseiter, die Outlaws? Könnte es so auch beim ein Nicht-Menschen sein? Ist er einer, der sich unverstanden fühlt? Jemand, der sich in seiner Gesamtheit nicht gesehen, nicht angenommen fühlt. Jemand, der sich zu jedem Zeitpunkt amputiert fühlt. Von der Gesellschaft, von der Welt. So wie der Nicht-Ort stets mit einer Reduzierung seiner selbst auf einen bestimmten Zweck zu kämpfen hat, so sieht sich auch der Nichtmensch auf herausstechende Teile oder Merkmale seiner Persönlichkeit oder seiner Erfahrungen reduziert.

Die Kunst, die dabei entsteht, ist fragmentarisch, bruchstückhaft, sofern man die Arbeiten nur einzeln betrachtet. Fügt man sie jedoch zu einem großen Ganzen zusammen, lädt uns der NICHTMENSCH in seine Welt ein. Einer Welt, die niemals nur aus einem Medium bestehen kann. Er hört, er fühlt, er sieht und er fasst an. Und alles dies mit einer Schwermut und Hoffnungslosigkeit, wie sie vermutlich nur andere NICHTMENSCHEN verstehen können. Und um ein letztes Mal Augé zu bemühen: es sind „Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“.

Im Dezember 2020 zündete ich in meinem Wohnzimmer eine Kerze an und nahm ihr Abbrennen auf Video auf. Während die Kamera aufnimmt, gehe ich im Hintergrund meinem Alltag nach. Ich koche, esse, spüle ab, rede mit mir selbst und den Katzen und bespreche mit ihnen verschiedene Themen wie Liebeskummer, psychedelische Drogen und allgemeinen Wahnsinn, dazu laufen einige Episoden "American Horror Story". Das ganze Video ist knapp vereinhalb Stunden lang und wurde im Rahmen der Ausstellung erstmals öffentlich gezeigt. Der Titel der Installation lautete: HÖRST DU DIR EIGENTLICH NOCH SELBST ZU?